Der Respekt vor dem Schicksal eines jeden Menschen
Im Laufe meiner Ausbildungen und meiner Arbeit mit Menschen bin ich mit vielen Lebensgeschichten in Berührung gekommen. Wir kennen das Sprichwort: „Jeder hat sein Päckchen zu tragen“ und da steckt natürlich wirklich viel Wahrheit drin.
Aber woher kommt es, daß der eine Mensch trotz heftigster Kindheitserlebnisse , also einem „schweren“ Päckchen ein „normales“ Leben führen kann und ein anderer an seinen Verletzungen, die augenscheinlich „fast jeder“ von uns kennt, zerbricht?
Und wieso werden Tipps und Ratschläge selbst in wohlwollender Absicht vom Empfänger oft als verletzend empfunden?
In diesem Kontext kommt als erstes die Resilienz ins Spiel. Resilienz ist die Widerstandsfähigkeit gegen die Stürme des Lebens. Auch wenn es sehr wirksame Wege gibt, sie zu stärken - zum Beispiel mit Yoga - scheint es ja so zu sein, dass sie dem Menschen auch manchmal in die Wiege gelegt wird. Dies allein dem Charakter oder dem Wesen zuzuschreiben, ist sicherlich zu einfach.
Beispielsweise wird dabei der pränatalen Forschung, also den vorgeburtlichen Geschehnissen in keinster Weise Rechnung getragen und meiner Meinung nach wird auch viel zu wenig über diesen Aspekt berichtet.
Es ist bekannt, dass starker Stress der Mutter während der Schwangerschaft vollumfänglich auf den Embryo übergeht. Das Nervensystem wird schon früh überfrachtet und ist somit für normalen Stress im frühen und späteren Leben schlechter gewappnet. Das kann sich ein wenig ausgleichen, aber auch verschlimmern - je nach Lebenssituation der Mutter und je nach den Umständen.
Stress bedeutet in diesem Kontext alles, was das Nervensystem überbelastet (gesunder Stress kann Resilienz sogar fördern) und impliziert auch den schädlichen Gebrauch von Substanzen, wie z.B. Alkohol. Leider wissen viele Menschen gar nicht, wie es ihrer Mutter wirklich ging - sowohl in der Schwangerschaft als auch in den ersten Lebensjahren und inwieweit sie in der Lage war, einen gesunden Kontakt zu ihrem Kind herzustellen, der z.B. so wichtig für die spätere Bindungsfähigkeit ist.
Ungünstige Umstände vorgeburtlich oder in den frühen und späteren Lebensjahren können jedenfalls die Verletzbarkeit oder Vulnerabilität erhöhen, sodass eine Benachteiligung für das spätere Leben vorliegen kann.
Urteile über einen Menschen im Umgang mit schwierigen Lebensereignissen, die eine Person, die wir gut kennen, vielleicht gut bewältigen konnte oder die wir selbst gut überstanden haben, sind also aus meiner Sicht sehr zurückhaltend zu behandeln. Auch Ratschläge oder Tipps sind nicht angezeigt. Wir sind nicht-wissend, wie dieser Mensch das (vielleicht für uns Normale), was geschehen ist, innerlich erlebt. Wir wissen nicht, wie er was irgendwann erlebt und auf seine Weise verarbeitet hat. Wir wissen nicht, wie und warum gewisse Ereignisse Erinnerungen triggern, wie sein Nervensystem reagiert und kaum wahrnehmbare subtile Prozesse in Gang setzt, die das Denken, Fühlen und die Körperwahrnehmung beeinflussen. Selbst die Hirnforschung tappt aufgrund der Vielschichtigkeit und Kompliziertheit noch völlig im Dunkeln, wie die Vorgänge im Ganzen zusammenspielen. Gerade mal 5% sollen wir heute darüber wissen.
Wenn wir Ratschläge geben, erheben wir uns und sind nicht mehr auf Augenhöhe.
Wenn es aber gelingt, in einen Modus des wahren Mitgefühls zu gelangen, welches von Urteil und Bewertung losgelöst ist, erfährt der leidende Mensch Respekt und Beachtung. Ganz oft ist es nämlich genau der Respekt und die Beachtung, das Gesehen-Werden, der bzw. das diesen Menschen im Laufe ihres Lebens unendlich gefehlt hat. Sie erzeugen immer wieder Situationen, die dazu führen, dass sie so behandelt werden, wie sie es gewohnt sind. Wahres Mitgefühl kann genau diesen Mechanismus durchbrechen und den Menschen in eine neue Wahrnehmungswelt führen.
Andere Menschen, die ein schweres Schicksal tragen, haben sich ggf. mit diesem „arrangiert“ und ihre Lebensenergie in materiellen Wohlstand investiert.
Sie werden oft bewundert nach dem Motto: „Er/Sie hat es geschafft!“
Selbstverständlich gebührt es Anerkennung, sich aus schweren Bedingungen heraus, etwas aufzubauen. Der Preis allerdings, der sich vielleicht in dem Wohlstand versteckt, ist oftmals hoch.
Vielleicht lassen diese Menschen keine Gefühle mehr zu und versäumen dadurch anders bereichernde Aspekte des Lebens. Negative Gefühle haben sie meist tief ins Unterbewusstsein verdrängt, vom Bewusstsein abgespalten. Und vielleicht führen sie Beziehungen ohne wirkliche Nähe. Die Erfahrung, was unser Menschsein eigentlich ausmacht, nämlich die tiefe Verbindung unseres innersten Kerns zu anderen Menschen wird ihnen verwehrt.
Der große Leidensdruck der jeweiligen PartnerInnen ist Bestandteil sowohl des Beziehungserlebens als auch der -gestaltung.
Sie sind mehr darauf bedacht, alles zu tun, um ihren materiellen Status so hoch wie möglich zu halten. Die Qualität ihrer Beziehung(en) und ihre Lebensqualität wird ausschliesslich von den materiellen Werten genährt und scheint dem Qualitätsanspruch zu genügen.
Wie oft jedoch senden diese Menschen Signale, wie unglücklich sie im Grunde ihres Herzens sind, spüren sie doch unbewusst, dass der Wohlstand zwar angenehm ist, jedoch nicht zur wahren Erfüllung führt. Mitgefühl, eine wertfreie Haltung kann dazu beitragen, dass sich diese Menschen losgelöst von den materiellen Werten gesehen und respektiert fühlen. Auch sie haben oft genau diese Beachtung nie erfahren.
Wie auch immer. Den Menschen, die es -natürlich auf ethisch korrekte Weise- zu materiellem Wohlstand gebracht haben, gebührt in ihrem seelischem Leid der gleiche Respekt und das gleiche Mitgefühl wie den Menschen, die zerbrechen.
Die Bewältigungsmodi, mit denen wir Menschen unser Päcklein tragen sind so individuell wie der Mensch selbst.
Jedes Leben hier auf der Erde ist einzigartig und jedem Schicksal gebührt Respekt.